Man täusche sich nicht

Man täusche sich nicht: dieser Mann ist nicht dumm, dieser Mann ist nicht harmlos. Erdogan ist ein kluger, machtbewußter Politiker. Er handelt nicht nervös und hektisch, sondern ruhig, mit langfristiger Planung und zielbewußt. Das ist an sich alles brav und lobenswert. Das Problem liegt in den Zielen, die Erdogan hat, es liegt in der Ideologie, die dieser Mann vertritt.

Zwei Aspekte sind die wesentlichen: Erdogan ist ein Chauvinist. Und: Erdogan ist Islamist.

Ein Chauvinist ist einer, der von der Überlegenheit der eigenen Gruppe durchdrungen ist. Ja, Erdogan hält seine Gruppe, die Türken, für etwas ganz besonderes. So sind sie etwa unfähig, einen Genozid zu verüben, weswegen über die Ausrottung der Armenier in der Türkei nicht gesprochen, nicht geforscht werden darf – sonst kommt man ins Gefängnis. Auch deswegen kommt die Türkei nicht in die EU, aber das ist etwas anderes. Erdogan zeigt seinen Chauvinismus auch dadurch, daß er gelegentlich nach Deutschland reist, in Fußballstadien seine Anhänger versammelt und diese, ob sie nun einen türkischen oder einen deutschen Paß haben, als seine Untertanen behandelt und ihnen Anweisungen gibt, wie sie sich zu verhalten haben. In früheren Jahren ein casus belli, heute scheint das niemanden mehr so recht zu stören.

Erdogan ist Islamist. Falls jemand einwenden möchte, daß er möglicherweise nur den Islamisten nahesteht, ohne gleich selbst einer zu sein: Das ist für die Beurteilung seiner Politik gleichgültig. Jedenfalls macht Erdogan sich Menschen zu Freunden, die von der ganzen Welt als islamistische Terroristen angesehen werden, wie etwa die Hamas. Mehr zu wissen ist nicht wirklich notwendig, um zu sagen: Erdogan widersetzt sich nicht der Radikalisierungstendenz des Islam, er ist vielmehr Teil von ihr, er befördert sie. Er hat nicht Atatürk zum Vorbild, sondern Chomeini, auch wenn er nicht so wie der herumlaufen will.

Über Jahrzehnte hinweg hat die Türkei in Israel einen Partner gehabt. Damals rechnete die Türkei zum Westen, sie wollte zum Westen gehören, und nicht zu dieser rückständigen Welt der Wüstenschrate hinter ihren südöstlichen Grenzen. Mit Gründung Israels kam da etwas neues, da kam ein moderner Staat in der Levante, da kam Bewegung hinein, Modernität, Fortschritt, Bildung, Wirtschaftswachstum, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie. Es war folgerichtig, daß beide Staaten sich annäherten, denn damals war die Türkei im Begriff, ein moderner Staat zu werden. Aber ach, mit dem Fall des Kommunismus fiel auch eines der Motive der Türkei, sich an den Westen zu binden, weg. Diese Angst vor dem gewaltigen Nachbarn UdSSR war für die türkische Außenpolitik schon immer maßgeblich; trotz vieler Sympathien für Hitler traten die Türken eben nicht an der Seite der Deutschen in den Zweiten Weltkrieg ein, als diese darum baten – weil sie wußten, daß sie zu Lande von der UdSSR und zu Wasser vom Vereinigten Königreich schnell und hart bestraft werden würden. Diese Angst ist nicht mehr da, denn die Sowjetunion ist nicht mehr da, und Großbritannien ängstigst schon lange niemanden mehr (außer möglicherweise den Argentiniern). Da zwischen der Türkei und Rußland ein paar jener als Staaten zu bezeichnende Gebilde liegen, die nach dem Zerfall der Sowjetunion übrig blieben, ist Rußland für die Türkei längst nicht mehr so wichtig, wie es einmal war. Das macht frei. Und diese Freiheit nutzt Erdogan – in seinem Sinne.

Die Grenzen der Türkei zu betrachten, ist lehrreich. Nach Europa grenzt die Türkei an Griechenland und Bulgarien: zweimal EU, einmal Euro-Zone, aber beide Länder sind arm, mit dem einen ist man seit eh und je verfeindet – eine Nachbarschaft, die für Erdogan ohne Perspektive ist. Außerdem droht seitens Europa ständig Ärger – beispielsweise durch die völkerrechtlich unvermeidliche Anerkennung Zyperns. Darauf jedoch scheint Erdogans Streben nicht gerichtet zu sein. Vom alten Kontinent hat Erdogan mit seiner Politik nicht viel zu erwarten.

Aber blickt er nach Asien, da tun sich (aus Erdogans Sicht) ganz andere Möglichkeiten auf. Die Türkei hat Grenzen zu Georgien, Armenien, Iran, Irak und Syrien. Mit Blick darauf wird eine Erkenntnis naheliegend: Was kann die Türkei im Westen schon werden? Bestenfalls ein vorgeschobener Posten der NATO, mit dem wir versuchen, der Weltlage halbwegs Herr zu bleiben. Dafür bedanken wir uns bei dem Staat Türkei, indem wir ihn so halb und halb dazugehören lassen. Ernst nehmen kann man diesen Staat in seiner heutigen Façon, gemessen an der EU, an der NATO natürlich nicht. Wie sollte man auch: Türken bitten nach wie vor in Deutschland um Asyl, und dann soll dieses Land in die EU? Bei uns im Westen, in der EU, in der NATO ist und bleibt die Türkei auf absehbare Zeit ein Staat, der nicht wirklich gewünscht ist, sondern einer, den man eben duldet, weil es als besser angesehen wird, wenn er bei uns am Katzentisch sitzt, als wanderte er ab.

Genau das hat Erdogan erkannt: Indem er die Türkei dem Westen entfremdet, tun sich ihm im Osten neue Möglichkeiten auf. Indem er europäischen Ambitionen entsagt, versetzt er sich in die Lage, die Türkei zur Mittelmacht aufzubauen. Hier im Westen die entwürdigende Duldung, dort im erwachenden Reich des Islamismus das Königtum des Einäugigen unter den Blinden – wofür Atatürk sich entschieden hat, ist bekannt. Wofür Erdogan sich entschieden hat, ist offensichtlich.

Das, was Erdogan tut, ist nachvollziehbar. Deswegen aber ist es nicht richtig – es ist falsch. Vor allem ist es gefährlich. Jene Staaten östlich der Türkei mit ihrer typischen Mischung aus gesetzloser Willkürherrschaft, Stammesstrukturen, Korruption, Despotismus, Islam als prägender Kultur und Islamismus, Gewalt als allgegenwärtigem politischen Kampfmittel sind, auch wenn alte SS-Männer das anders sehen, die Quelle aller realen Gefahren für den Weltfrieden. In diese Gemengelage führt Erdogan die Türkei. Er reist ganz aktuell nach China, er übernimmt eine Führungsrolle im Vorgehen gegen Syrien und kündigt militärische Maßnahmen an, er ermöglicht eine zwar politisch bedeutungslose, propagandistisch aber elementare Aktion wie „Ship to Gaza“, er spielt in Euorpa mal die beleidigte Leberwurst, mal den Nachfolger des Kalifen, und arrangiert sich mit den Großen: die USA bitten die Türkei nach wie vor, nicht von der Stange zu gehen, was aber längst geschehen und deswegen das Bitten zu spät ist (aber was kümmert’s Obama, der seinen Friedensnobelpreis™-Politik eh nicht an der Realität ausrichtet, und Clinton erlaubt sich schon längst keine wirkliche Meinung mehr). Mit Putin spricht Erdogan über Gas und Öl und Pipelines und die unruhigen Staaten an Rußlands Südgürtel, und sogar in Peking wird Erdogan inzwischen willkommen geheißen. Zwischendurch einen kleine Solidaritätsadresse an die Mordbrenner von der Hamas – ja, so stellt man sich die Führerschaft einer Mittelmacht vor. Endlich nimmt die Türkei eine respektable Stellung ein – könnte man meinen, und das meinen sicher viele, die Erdogan unterstützen, die ihn wählen.

Aber so ist das nicht. Der Weg nach Europa wäre der richtige Weg für die Türkei. Er hätte Jahrzehnte gedauert, und er hätte der Türkei viel abverlangt. Die Türkei ist kein Rechtsstaat – sie muß einer werden. In der Türkei gibt es mehr Analphabeten als Österreich Einwohner hat. Die soziale Lage der Frauen spottet der Beschreibung. Die Türkei pflegt einen Nationalismus und Chauvinismus, den man durchaus als widerlich empfinden darf. Die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei ist von Stadt zu Land, von Region zu Region dermaßen unterschiedlich, daß das nicht hingenommen werden kann. Durch die Einreihung der Türkei in die Gruppe der Staaten, die offen Antisemitismus und Antizionismus propagieren, ist die Türkei ein nur noch bedingt achtbares Mitglied der Völkergemeinschaft. Aber das stört Erdogan offensichtlich nicht. Er gibt lieber seinen Landsleuten das Gefühl, daß die Türkei in einem gewissen Bereich von Bedeutung ist, als die realen Probleme des Landes anzugehen. Und damit man ihm das in der Türkei nicht vorwirft, unterdrückt er die Meinungsfreiheit.

Erdogan plant auf lange Sicht. Er gibt seinen früher noch mächtigen Gegnern keine Chance zum Eingreifen. Er hat gezielt ihm nahestehende Soldaten befördert, denn früher putschte die Militärführung schon mal gelegentlich, wenn die politische Führung Atatürks Kurs verließ. Heute, nach zehn Jahren, muß Erdogan das Militär nicht mehr fürchten. Er muß auch die Justiz nicht mehr fürchten, denn in seiner faktisch seit 2002 währenden, nunmehr also zehnjährigen Amtszeit sorgte Erdogan dafür, daß nur ihm genehme Richter in die obersten türkischen Gerichte berufen wurden.

Man sollte auch nicht vergessen, daß Erdogan 1998 zu zehn Monaten Haft und lebenslangem Politikverbot verurteilt worden war, weil er folgendes gesagt hatte:

Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten

Das kann einem bekannt vorkommen. Und zwar beides: daß Erdogan trotz Verurteilung wieder in die Politik eintreten konnte als auch die verfassungsfeindliche Weltsicht.

Auffallend ähnliches schrieb Joseph Goebbels im Frühjahr 1928 im „Angriff“, als er zum Reichstagsabgeordneten gewählt wurde:

Wir kommen nicht als Freunde, auch nicht als Neutrale. Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in die Schafherde einbricht, so kommen wir!

Im gewöhnlichen Leben nennt man das: MdR, Mitglied des Reichstags. Ich bin ein IdI. Ein IdF. Ein Inhaber der Immunität, ein Inhaber der Freifahrkarte. Was geht uns der Reichstag an?

Nicht jeder, der ähnliche Stilmittel gebraucht, ist gleich ein Menschheitsverbrecher. Aber so wie Goebbels erst die Demokratie schmäht, um sie hernach zu zerstören, so schmäht Erdogan die Demokratie, um sie zu zerstören. Er hat sein Ziel bald erreicht.

Man täusche sich nicht darüber, was vor sich geht.

Bilder: Wikimedia Commons

4 Responses to Man täusche sich nicht

  1. Silberberg says:

    Ich könnte viele Worte über diesen Artikel verlieren, gebraucht werden freilich nur zwei: Sehr gut.

  2. riccardo borghese says:

    Alles, was die Türkei von Europa fernhält ist gut. Schlecht ist allerdings, dass die deutsche Türkencommunity den Weg in den Islamismus mitgehen wird. Keine schönen Aussichten.

  3. Sehr guter Artikel und wohl völlig richtig durchschaut.

  4. Die einzigen Europäer, die von einem Beitritt der türkischen Islamisten profitieren würden, wären die rechtsextremen Parteien:

    Wer profitiert vom türkischen EU-Beitritt?

    Wenn es den demokratischen Parteien der Mitte nicht bald gelingt, die Ausbreitung des islamischen Extremismus zu stoppen, werden Europas Wähler selbst auch immer mehr auf Extremismus setzen.

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